Marianne Buggenhagen, 70, parkt unterm Sonnenschirm. Am Rande der Hanns-Braun-Sportanlage beim Berliner Olympiastadion sitzt sie in ihrem Rollstuhl und verfolgt hochkonzentriert die Leichtathletik-Wettkämpfe. Im roten Outfit mit weißem Kurzhaarschnitt und neon-oranger Sonnenbrille ist die neunmalige Goldmedaillen-Gewinnerin der Paralympics ein Hingucker, der von vielen Fans erkannt wird. Aber um sie gehe es heute nicht, sagt Marianne Buggenhagen. Seit dreieinhalb Jahren trainiert sie im Tandem mit ihrer Nichte Sandra Buggenhagen, 46, die Special Olympics Athletin Heidi Kuder, 17. Marianne im Kugelstoßen und beim Krafttraining; Sandra, ebenfalls erfahrende Leichtathletin, im Sprint über 100 Meter und für die 4x100 Meter Staffel.
Hallo, Frau Buggenhagen und Frau Buggenhagen, wie laufen die ersten Weltspiele als Trainerinnen? Marianne Buggenhagen: Wir sind zufrieden. Beim Kugelstoßen ist Heidi mit 8,07 Metern bereits im Finale. Die Laufwettbewerbe stehen noch aus.
Die Rolle der Trainerinnen ist für Sie beide neu. Haben Sie sich als Team mit Heidi Kuder gut eingespielt? Marianne Buggenhagen: Auch da bin ich sehr zufrieden. Heidi ist im Laufen richtig stark geworden und hat sich auch beim Krafttraining sehr verbessert. Es muss für sie bei diesen Weltspielen kein erster Platz werden. Aber es wäre schön, wenn sie es schafft, ihr Können abzurufen. Dafür haben wir immer und immer wieder die gleichen Abläufe trainiert. Das ist ganz wichtig bei Menschen mit geistiger Beeinträchtigung. Aber hier auf dem Platz herrscht natürlich eine völlig andere Atmosphäre: Weltspiele mit vielen Zuschauern. Das erlebt Heidi zum ersten Mal.
Sie startet in drei Disziplinen: Kugelstoßen, 100 Meter und 4x100 Meter Staffel. Wie sah das Training dafür aus? Sandra Buggenhagen: Wir haben zweimal wöchentlich ein sehr aktives Lauftraining absolviert. Dreimal die Woche fanden Krafttraining und Kugelstoßen statt. Das war intensiv, Heidi ist hochmotiviert. Sie will es ganz nach vorn zu schaffen. Ich sage: Egal, was kommt, unsere Siegerin ist sie sowieso.
Wie sind Sie als Leistungs- bzw. ehemalige Hochleistungssportlerin überhaupt zu Special Olympics gekommen? Marianne Buggenhagen: Als ich vor vier Jahren gehört habe, dass die Weltspiele nach Berlin kommen, habe ich mich sehr gefreut. Eine Riesenchance für die Inklusion. Wir haben ein großes Potenzial an Sportler*innen mit Beeinträchtigung. Aber es gibt keine Vereine, die bereit sind, diese Sportler*innen bei sich trainieren zu lassen, geschweige denn, sie aufzunehmen. Ich habe zwei Jahre dafür gekämpft, einen Verein zu finden, bei dem Athlet*innen mit Beeinträchtigungen zumindest einmal die Woche trainieren können.
Was ist das Problem? Marianne Buggenhagen: Die Lippenbekenntnisse. „Wir finden es toll, dass Sie sich für Inklusion im Sport einsetzen. Aber wir können das nicht.“ Oder noch schlimmer: „Denen kann man doch nur vor den Kopf gucken und nicht hinein.“ Eine absolute Frechheit! Natürlich bringt inklusiver Sport Herausforderungen mit sich: Barrierefreiheit, Transportmöglichkeiten, besondere Trainingspläne, 1:1-Betreuung. Aber das ist alles machbar, wenn man will. Wir haben es ja auch geschafft.
Sie haben schließlich beim SG Schwanebeck eine inklusive Sportgruppe gründen können, die für das Sportabzeichen trainiert. Marianne Buggenhagen: Genau. Dort sind wir nicht auf Leistung getrimmt. Wir wollen lediglich erreichen, dass sich jedes Mitglied ein kleines bisschen verbessert und etwas für sich mitnimmt aus dem Training. Wir üben, wie man über den Schwebebalken balanciert, wie man einen Schläger hält, wie man besser läuft.
Gleichzeitig haben Sie sich die Weltspiele vorgenommen. Sandra Buggenhagen: Das hatten wir schon im Blick, als wir in Schwanebeck anfingen. Selbst nur ein oder zwei Personen hinschicken zu können - das wäre das Größte, was wir schaffen könnten, haben wir uns gesagt.
Wie haben Sie es erreicht? Sandra Buggenhagen: Schrittweise. Wir haben mit Heidi erst auf die Landesmeisterschaften hintrainiert. Dort hat sie sehr gut abgeschnitten. Auch bei den Nationalen Spielen war sie erfolgreich. Dann haben wir gesagt: Ein Ziel gibt es noch. Und da sind wir heute. Das Training in Schwanebeck hat uns da Türen geöffnet. Wir haben zum Beispiel starke Laufgegner für Heidi gesucht und dafür im Verein Panketal angefragt. Das war kein Problem mehr. Heidi wurde vom ersten Tag an integriert, nicht an die Hand genommen, sondern auf Augenhöhe akzeptiert.
Frau Buggenhagen, als vielleicht einzige Weltklassesportlerin haben Sie als Jugendliche den Sport, dann den Para-Sport und jetzt Special Olympics kennengelernt. Lassen sich die drei Welten vergleichen? Marianne Buggenhagen: Das ist natürlich schwierig. Die Akzeptanz von Menschen mit körperlichen und geistigen Einschränkungen fehlt in der Bevölkerung oft noch. Eine weitere ganz wichtige Unterscheidung, auch zwischen Special Olympics und Paralympics: Menschen mit geistiger Beeinträchtigung können keinen Leistungssport im üblichen Sinne liefern. Die Freude an der Bewegung und der Gemeinsamkeit steht im Fokus. Aber sie profitieren natürlich wie alle Menschen ganz enorm vom Sport. Wir haben bei diesen Weltspielen einen fast blinden Autisten erlebt, der hier zum ersten Mal allein 60 Meter gelaufen ist, indem er sich an seinem Vordermann orientiert hat. Ich habe diese Erfahrung damals selbst gemacht, als ich in den Rollstuhl kam: Der Sport hat mir geholfen, meinen Alltag zu bewältigen. Die Konzentration und das Gefühl, etwas leisten zu können – das verbindet die drei Welten. Ebenso der Umgang mit den Mitmenschen, die Freundschaften, die entstehen – das ist für alle Sporttreibenden wichtig.
Team Buggenhagen, die Weltspiele haben Sie erreicht. Was ist Ihr nächstes Ziel? Sandra Buggenhagen: Wir sehen bei Heidi, dass alle profitieren, wenn Menschen mit und ohne Beeinträchtigung zusammen trainieren. Das muss das Ziel für die Zukunft sein. Die Vereine müssen da mutiger werden. Marianne Buggenhagen: Inklusion und Integration – diese Wörter sollte es gar nicht mehr geben müssen.
Interview: Nadja Bossmann
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